Der lange Atem / Nina Jäckle

 

Der lange Atem spielt eineinhalb Jahre nach der Fukushima-Tsunami-Katastrophe. Ein Inspektor, früher zuständig für das Zeichnen von Phantombildern, ist mit seiner Frau in das zerstörte Heimatstädchen zurückgekehrt. Er fertigt anhand von Fotos der entstellten Gesichter der Tsunamiopfer Portraits an, (durch "Wegzeichnen", "Zurück zeichnen") die es den Hinterbliebenen leichter macht, ihre Angehörigen zu identifizieren. Der Zeichner (Ich-Erzähler) findet im "Wegzeichnen" Erleichterung, bemerkt dabei aber nichts von der Einsamkeit seiner Frau.
Keine der handelnden Personen hat einen Namen, mit Ausnahme des 5-jährigen Mädchens Aoko, die früheren Nachbarn, wo jetzt keine Nachbarn mehr sind.

Nina Jäckle erzählt in einer klaren, knappen Sprache. Diese Kunst des Andeutens schafft eine besonders bedrückende Atmosphäre.

 

Seite 9:
Es war der elfte März, und das Meer atmete aus, ins Land hinein atmete es aus und dann atmete es tief wieder ein. Das Meer sog in sich auf, wer da saß, wer da spielte, wer da schlief, wer da lachte oder schwieg, wer da noch jung war oder bereits alt, übermütig, einsam oder in einer Umarmung. Das Meer hat einen langen Atem.

 

Seite 12:
Es werden gewiss bald Lieder geschrieben über die Schmetterlinge mit den zu kleinen, deformierten Flügeln und den seltsamen Augen, es wurden noch längst nicht alle dieser Schmetterlinge geboren.

 

Seite 14:
Die Augen zeichne ich stets zuletzt, beim Zeichnen der Augen werde ich nervös, denn sie sind die lebendigste Unterstellung. Durch die Augen, durch den Blick, bekommen die Gesichter ihren Witz oder ihre Strenge, ihre Frechheit, ihre Enttäuschung oder auch ihre Verschwiegenheit. Habe ich die Augen und also den Blick in die Gesichter gezeichnet, so sind die Gesichter bereit, von den Hinterbliebenen identifiziert zu werden, von jenen, die der Pazifik nicht holte, weil sie dort waren, wo sich das Glück aufhielt, von jenen, die dem langen Atem des Meeres entgangen sind.

Ein ungewöhnliches, sehr intensives, verstörendes aber lesenswertes Buch.

 

180 Seiten / 19,- €

 

(Uschi Freiberger)

 

Foto: Reeser Skulpturenpark

Out of reach / Linda Verkaaik